Zur Problematik von Befangenheitsanträgen in der gegenwärtigen Praxis

Das Grundgesetz garantiert jedem rechtsuchenden Bürger einen Richter, der unabhängig und unparteilich ist. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert allen Bürgern das Menschenrecht auf ein faires Verfahren vor unabhängigen, unparteilichen Richtern.

Die verfassungsrechtlich verbürgte Neutralität kann im Einzelfall fehlen, wenn Richter befangen sind. Die Prozessordnungen sehen daher die Möglichkeit der Stellung von Befangenheitsanträgen vor. Diese sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung begründet, wenn ein „objektiver Grund“ vorliegt, der geeignet ist, bei einer „sachlich und vernunftgemäß denkenden Partei“ Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Nicht erheblich ist, ob ein Richter tatsächlich befangen ist oder nicht. Das wird sich in der Regel auch nicht feststellen lassen. Es kommt allein darauf an, ob es nachvollziehbare Gründe gibt, die geeignet sind, bei einer vernünftig denkenden Prozesspartei Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter auszulösen. Maßstab der Beurteilung hierbei ist nicht die Sicht von Richtern, sondern die Sicht durchschnittlich vernunftbegabter und durchschnittlich kritischer Normalbürger. Die Garantien des Grundgesetzes gelten für die real existierenden Bürger dieses Landes.

Wenn mehrere Richter an einer Entscheidung beteiligt sind, erfahren Parteien und Öffentlichkeit nicht, welcher Richter wie entschieden hat. (Eine Ausnahme bildet das Bundesverfassungsgericht. Dort können Minderheitenvoten öffentlich gemacht werden.) Richter haben ein Beratungsgeheimnis. (Dieses stammt von 1877 und schützt Richter vor der Gefahr, sich für ihre Entscheidungen öffentlich verantworten zu müssen. Siehe hierzu Rolf Lamprecht: Die Lebenslüge der Juristen, München 2008, S. 125ff) Entscheidungen werden nach außen nicht von Richtern getroffen, sondern von einem Gericht. Hat eine Partei den Eindruck, die Entscheidung einer Kammer beruhe auf Voreingenommenheit, muss sie folglich alle an der Entscheidung beteiligten Richter ablehnen. Angesichts der Abhängigkeit der beisitzenden Richter vom Vorsitzenden Richter kann ein Kläger allerdings davon ausgehen, dass der vorsitzende Richter für eine Entscheidung mitverantwortlich ist. Der Vorsitzende Richter schreibt regelmäßig Beurteilungen über seine Beisitzer, die über ihren weiteren Karriereweg mitentscheiden.

Für einen Nicht-Juristen mag es selbstverständlich erscheinen, dass Richter Menschen sind, aus dem einen oder anderen Grund ein Interesse an dem Ausgang eines Prozesses haben und in der Sache befangen sein können. Richter scheinen da ein anderes Selbstbild zu haben.

Zum Ablehnungsrecht führt der ehemalige vorsitzende Richter des OLG Köln, Dr. Egon Schneider, kritisch aus:

„Richter werden nicht nur haftungsrechtlich von ihren rechtsprechenden Kollegen abgeschirmt, sondern sie werden auch vor dem Einstehen für Persönlichkeitsausfälle geschützt. Das geschieht durch die richterrechtliche Ausgestaltung des Ablehnungsverfahrens.

Nach § 42 Abs. 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Es geht dabei ausschließlich um die subjektive Wertung der ablehnenden Partei. Diese eindeutig psychologische Ausgangslage wird von der Rechtsprechung auf den Kopf gestellt, und der Gesetzgeber hilft nach.

Die Gerichte haben die subjektive Lage des Ablehnenden kurzerhand objektiviert und an Stelle der konkreten Partei eine Kunstfigur gesetzt, eine besonnene, objektive und einsichtige Idealperson. Auf diese Weise sollen rein subjektive Wertungen und persönliche Überempfindlichkeiten ausgeschaltet werden. Der Vorsitzende Richter am OLG Chlostat (Name, L.H.) (SchlHA 1994, 140) hat eingeräumt, dass es sich hierbei um einen semantischen Trick handelt, mit dem Unvereinbares auf einen Nenner gebracht werden soll. So schaffen sich Richter die Möglichkeit einer Projektion. Was der fiktive Ablehnende denken und empfinden muss, bestimmen sie auf Grund ihrer eigenen Wertung und übertragen diese auf die ablehnende Partei. Die Anforderungen an deren Besorgnis lassen sich dann so formulieren, dass die Partei vielleicht „subjektiv“ besorgt, diese Besorgnis aber „objektiv“ grundlos sei. Voreingenommenheit, Parteilichkeit, Neutralitätsverstöße, verbale Entgleisungen und dergleichen können so als „objektiv“ harmlos behandelt werden. Das kann so weit gehen, dass sogar Gesetzesverstöße in Kauf genommen werden, um abgelehnte Kollegen zu schützen.

Die „Modernisierungsgesetzgebung“ trägt leider das ihre dazu bei, erfolgreiche Ablehnungsgesuche zu verhindern. Nach altem Recht (§ 45 Abs. 2 ZPO) war die Ablehnung eines Richters so geregelt, dass darüber erst einmal das Landgericht, bei Ablehnung eines Familienrichters das Oberlandgericht zu entscheiden hatte. Damit war ein Mindestmaß an Objektivität sichergestellt, weil Richter eines anderen Gerichts über die Berechtigung der Ablehnung zu entscheiden hatten, so dass der Einfluss beruflicher oder persönlicher Kontakte aufgeschaltet schien. Das ist durch die ZPO-Reform 2002 geändert worden. Kontrollrichter ist nunmehr ein „anderer Richter des Amtsgerichts“ (§ 45 Abs. 2 S 1 ZPO). Es wird also einem Richter angesonnen, das Verhalten seines Kollegen kritisch zu überprüfen und vielleicht dadurch abzuwerten, dass die Befangenheitsablehnung für begründet erklärt wird. Welche psychischen Hemmschwellen müssen dazu überwunden werden! […]
Befangenheitsablehnungen haben im Zivilprozess jetzt noch geringere Erfolgsaussichten als vorher. Das ist mit diesen Abschwächungen der Rechtsstellung der Parteien auch bezweckt. […] Jedenfalls ist es auffällig, dass mit dem Anstieg der Ablehnungsverfahren eine gegenläufige Gesetzgebung einher geht.“

Alles läuft darauf hinaus, die Unantastbarkeit richterlichen Verhaltens zu stärken und den Staat von dem Einstehen für ihm zuzurechnendes Unrecht freizustellen. Die einzigen Juristen, die sanktionslos die Gesetze verletzen dürfen, sind die Richter! Wenn aber die Rechtsunterworfenen richterliche Fehlurteile und richterliche Pflichtverletzungen ersatzlos tragen müssen, dann sind die Kriterien eines Rechtsstaates nicht mehr erfüllt. Und so bleibt am Ende die Erkenntnis: Ein Rechtsstaat, wie er den Verfassern des Grundgesetzes vorgeschwebt hat, den haben wir nicht und wir entfernen uns ständig weiter von diesem Ideal.“

(Egon Schneider: Der Niedergang des Rechtsstaats, in: Eberhard Kempf u.a.: Festschrift für Christian Richter II „Verstehen und widerstehen“, Nomos-Verlag, veröffentlicht am 26.09.2006 im Internet)

Offensichtlich sehen es weder der Gesetzgeber noch die Richterschaft als ihre Aufgabe an, die von der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten prozessualen Grundrechte der Bürger auf faire Gerichtsverfahren vor unabhängigen Richtern und effektiven Rechtsschutz in der Realität wirksam zu garantieren.