Wie unabhängig sind Sachverständige?

Im deutschen Prozessrecht sollen Gutachter ebenso wie Richter neutral und unparteilich sein. In der Realität ist das vielfach aber nicht der Fall.

Frau Dr. Ursula Gresser, Professorin für Medizin an der Universität in München, hat eine Dissertation betreut, die das medizinische und psychologische Gutachterwesen an bayerischen Gerichten untersucht. Sie äußert sich zu den Ergebnissen dieser Untersuchung in einem Interview in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW 23/ 2014 S. 12f):

„Formell sind Gutachter unabhängig, die facto aber wohl viele nicht. So hat sich bei unserer Befragung von insgesamt 548 medizinischen und psychologischen Gutachtern in Bayern – 46% haben geantwortet – hergeben, dass 22,6% der antwortenden Befragten über 50% ihrer Gesamteinnahmen aus Gutachten beziehen, bei den Psychologen sind es 48.8%, bei den Psychiatern 29,2 %. Wer mehr als die Hälfte seiner Einnahmen aus Gutachten bezieht, hat in der Regel ein Interesse, Gutachtenaufträge zu bekommen und damit beginnt die Abhängigkeit.

Es hat sich ein kaum bis nicht kontrolliertes System entwickelt. Ich habe bereits an anderer Stelle erklärt, dass man aus der Erfahrung mit der deutschen Vergangenheit heraus versucht hat, ein komplett unabhängiges Rechtssystem zu installieren. Dabei hat man im Lauf der Zeit aber „Unabhängigkeit“ mit „Unkontrolliertheit“ und „keine Verantwortung“ verwechselt. Ein System ohne jede Kontrolle und Verantwortung wird auf die Dauer entgleisen […]

Auf die Frage, „Wurde Ihnen bei einem Gutachtenauftrag schon einmal eine Tendenz signalisiert? (betrifft nur von einem Gericht in Auftrag gegebene Gutachten)“ antworteten 24,7% aller Antwortenden mit „Ja.“. Bei den Psychologen gaben 45% „Ja“ an, bei den Psychiatern „28%“. Aus diesen Zahlen kann man schließen, dass es nicht selten ist, dass ein Gutachter bei Auftragserteilung durch ein Gericht signalisiert bekommt, wo es denn in der Tendenz hingehen könnte. […]

Die Signalisierung einer Tendenz durch ein Gericht bei Auftragsvergabe bedeutet nicht, dass der Gutachter diesem Tendenzsignal folgt. Aber zum einen ist es schwer, neutral zu bewerten, wenn man weiß, was wohl erwartet wird – auch Gutachter sind beeinflussbare Menschen mit einem Unterbewusstsein. Und zum anderen ist jedem klar, dass er möglicherweise zukünftige Aufträge gefährdet, wenn er dem Tendenzsignal nicht folgt. Wer mehr als die Hälfte seiner Einnahmen aus Gutachten bezieht oder gar sich auf Gutachten spezialisiert hat, ist darauf angewiesen, Aufträge zu bekommen. […]

Nach Aussagen der befragten Gutachter beginnt die Beeinflussung bereits mit der Auswahl des Gutachters. So lauteten Anmerkungen etwa: „Interessant ist, wer bei Gericht über die Vergabe der Gutachten entscheidet“, „Es ist allgemein bekannt, dass Gerichte bei der Auswahl der Gutachter das gewünschte Ergebnis vorwegnehmen“ […]

In Anrufen und Zuschriften von Gutachtern aus dem gesamten Bundesgebiet wurde uns mitgeteilt, dass die Verhältnisse in anderen Bundesländern vergleichbar sind […]

Ich kenne keinen Fall, in dem sich ein Auftraggeber für die Signalisierung einer Tendenz an den Gutachter verantworten musste. […] Diese Tendenzsignale erfolgen nach der Mitteilung von Gutachtern im Gespräch ohne schriftliche Dokumentation. […] Würde bei Verdacht auf Erstattung vorsätzlicher Tendenzgutachten ermittelt, so wie der Rechtsstaat es bei Verdacht auf eine strafbare Handlung tut, würde die Zahl der Tendenzgutachten rasch abnehmen.“